„Die russische Sprache hat die Lebendigkeit des Französischen, die Zärtlichkeit des Italienischen, die Feierlichkeit des Spanischen, die Stärke des Deutschen und ist so ausdrucksvoll wie Latein.“
Michail Wasiljewitsch Lomonossow
Russischunterricht in Mecklenburg-Vorpommern – Stand und Perspektiven
1. Wo stehen wir in M-V mit Russisch als Unterrichtsfach in der Schule?
Russisch belegt in Deutschland unter den modernen Schulfremdsprachen nach Englisch, Französisch und Spanisch seit 2003 unverändert Platz 4, unter allen Schulfremdsprachen nach Latein Rang 5 (Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland). In Mecklenburg-Vorpommern (M-V). ist Russisch eine von 12 Schulfremdsprachen. Der einstige Primus unter den Fremdsprachen in der DDR musste nach 1989 in der Pluralität des schulischen Sprachenangebots seinen Platz erst finden. Die Statistik (Quelle: Statistisches Amt M-V) zeigt, dass unter den veränderten Bedingungen nicht wenige Schüler das Fach Russisch abwählten oder sich für eine andere Fremdsprache entschieden:
Jahr | Dä- nisch | Englisch | Französisch | Grie-chisch | La-tein | Pol- nisch | Russisch | Schwe- disch | Spa-nisch |
1991 | – | 146.313 | 4.459 | 5 | 953 | 19 | 96.698 (2.) 38,9 % | 43 | 265 |
1992 | 22 | 159.309 | 15.547 | 17 | 3.030 | 13 | 81.262 (2.) 31,3 % | 151 | 420 |
1993 | – | 166.540 | 24.489 | 7 | 3.396 | 53 | 65.909 (2.) 25,2 % | 74 | 409 |
1994 | 17 | 173.245 | 30.219 | 30 | 4.216 | 59 | 48.949 (2.) 19,0 % | 106 | 568 |
1995 | 27 | 174.316 | 35.361 | 37 | 4.607 | 108 | 33.375 (3.) 13,4 % | 110 | 789 |
1996 | 54 | 179.746 | 34.575 | 48 | 5.176 | 80 | 29.617 (3.) 11,8 % | 213 | 923 |
1997 | 65 | 194.976 | 34.684 | 50 | 5.418 | 105 | 27.708 (3.) 10,5 % | 318 | 1.140 |
1998 | 62 | 203.643 | 34.271 | 44 | 5.837 | 104 | 26.884 (3.) 9,9 % | 475 | 1.325 |
2001 | – | 180.024 | 35.934 | 63 | 6.927 | 180 | 21.787 (3.) 8,8 % | 529 | 2.140 |
2009 | 34 | 99.388 | 14.847 | 43 | 5.118 | 302 | 6.643 (3.) 5,1 % | 575 | 4.027 |
2011 | 54 | 106.365 (1.) | 16.846 (2.) | 42 | 5.686 | 607 | 6.543 (3.) 4,6 % | 650 | 5.566 |
Im Schuljahr 2011/12 entfielen nach den Angaben des Statistischen Amtes M-V die Russischlernenden an allgemeinbildenden Schulen auf folgende Schularten:
Schule mit mehreren Bildungsgängen: 2.534 38,7 %
Gymnasium 2.805 42,9 %
Integrierte Gesamtschule 337 5,2 %
Waldorfschule 836 12,8 %
Förderschule 24 0,3 %
Abendgymnasium 7 0,1 %
Insgesamt 6.543 100,0 %
Eine Differenzierung nach Jahrgangsstufen ergab für das Schuljahr 2011/12 folgendes Bild:
Primarbereich 268 4,1 %
Sekundarstufe I 5.232 80,0 %
Sekundarstufe II 1.019 15,6 %
Förderschule 24 0,3 %
Insgesamt 6.543 100,0 %
Die meisten Russischlernenden in M-V sind an den Gymnasien zu finden. Dort wird das Fach als 2. Fremdsprache in den Jahrgangsstufen 7-10 im Gesamtumfang von 14 Wochenstunden und als spät beginnende Fremdsprache ab Jahrgangsstufe 10 bis zum Abitur im Gesamtumfang von 12 Wochenstunden unterrichtet. Im Schuljahr 2011/12 erteilten 32 von 49 Gymnasien Russisch, als 2. Fremdsprache 32 Gymnasien, als 3. Fremdsprache vier Gymnasien, als 1. und als 4. Fremdsprache je ein Gymnasium. Überhaupt kein Russisch mehr hatten die Schüler im Schuljahr 2011/12 an 17 Gymnasien in neun Orten, darunter in Bad Doberan, Greifswald, Stralsund, Pasewalk, Löcknitz und Waren. Doch ab dem Schuljahr 2012/13 steht Russisch als spät beginnende Fremdsprache z. B. wieder auf dem Stundenplan des Greifswalder Humboldt-Gymnasiums. Dass dieses Beispiel kein Einzelfall ist, belegt die nach dem Schuljahr 2010/11 von 6.492 auf 6.894 im Schuljahr 2012/13 angestiegene Gesamtzahl der Russischlernenden in M-V. Dieser Trend ist auch bundesweit zu verzeichnen, dort schon seit dem Schuljahr 2009/10. Es könnten in M-V sicher noch mehr Russischlernende sein, wenn es dort ähnlich wie in Sachsen-Anhalt bei Nichterreichen der erforderlichen Mindestzahl für eine Russischklasse jahrgangsübergreifende Kurse gäbe oder wenn bei Nichterreichen der Mindestzahl noch einmal für den Russischunterricht nachgeworben würde. Die Chancen, dass sich die zuletzt positive Entwicklung fortsetzen könnte, stehen nicht schlecht, denn selbst an Schulen, an denen Russisch zurzeit nicht unterrichtet wird, sind oft noch Lehrer mit der Lehrbefähigung für Russisch tätig.
Ungeachtet der Wiederaufnahme von Russisch in den Fächerkanon einzelner Schulen ist die Zahl der Russischlernenden und ihr prozentualer Anteil unter den Fremdsprachenfächern in M-V über die Jahre insgesamt gesehen rückläufig. Stand Russisch 1991 noch nach Englisch auf Platz 2, so belegt es seit 1995 Platz 3. Betrug der Anteil der Russischlernenden 1991 noch 38,9 %, so sank er bis zum Schuljahr 2010/11 auf den bisher tiefsten Stand. Das Institut für Slawistik der Universität Rostock wurde ungeachtet der Proteste auch des FMF M-V 2007 geschlossen. Die Ausbildung von Lehrern für Russisch an Haupt- und Realschulen und an Gymnasien in M-V erfolgt seitdem nur noch an der Universität Greifswald. Die Nachfrage nach Studienplätzen könnte dort allerdings größer sein.
2. Gründe und Ursachen für die bisherige Entwicklung
Muss man um die Perspektiven von Russisch als Unterrichtsfach in den Schulen von M-V fürchten? Bevor diese Frage beantwortet werden soll, gilt es zunächst, die Gründe und Ursachen für die aktuelle Entwicklung der Nachfrage nach Russisch und der Lernangebote zu analysieren und aufzudecken. Entscheidend haben diese Entwicklung m. E. die folgenden neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch subjektive Umstände beeinflusst:
- Russisch als Unterrichtsfach in der Schule hat seine 1946 politisch zunächst angestrebte und später verordnete, aber sprachenpolitisch zu keiner Zeit gerechtfertigte Monopolstellung verloren. Die politische Motivation wurde seit der Wiedervereinigung auch in den neuen Bundesländern durch eine praktische ersetzt. Russisch ist nicht mehr obligatorische Pflichtfremdsprache für alle Schüler, sondern vorrangig als 2. oder manchmal auch als 3. Fremdsprache nur noch fakultatives Wahlangebot, für oder gegen das sich die Schüler entscheiden können.
- Russisch wurde früher den anderen Schulfremdsprachen vorgezogen. Es musste von allen Schülern gelernt und durfte nicht abgewählt werden. Heute muss sich Russisch im Wettbewerb mit den anderen Schulfremdsprachen und mit weiteren Fächern um die Gunst der Lernenden behaupten. Die Entscheidung für Russisch ist kein Selbstläufer mehr. Nur derjenige Russischunterricht hat eine Perspektive, der begeistert, für sich selbst wirbt, über die Grenzen der Schule hinaus Interesse weckt, Schüler, Eltern und Schulleitungen überzeugt, dass Russisch eine attraktive und reizvolle Alternative zu den anderen Fremdsprachen und Fächern an der Schule ist.
- Der Russischunterricht wurde einst in seiner lebenspraktischen Bedeutung überbewertet, in seinen Lerninhalten ideologisiert und idealisiert. Er hat es auch deshalb schwer, Schüler, Eltern und Schulleitungen für sich einzunehmen. Diese Erblast ist für jeden Russischlehrer angesichts der heute nicht konfliktfreien politischen Beziehungen zu Russland eine nicht zu unterschätzende, aber durchaus zu meisternde Herausforderung. Dazu bedarf es jedoch hoch motivierter und qualifizierter Lehrkräfte, die sich in der russischen Sprache und Kultur auskennen, ein realistisches Russlandbild ohne Diffamierungen und Tabus vermitteln, ihre Schüler durch effiziente Lernstrategien und den Umgang mit kultureller Differenz zu anwendungsbereiten und ausbaufähigen Grundlagen der kommunikativen Sprachbeherrschung befähigen.
- Der rückläufige Trend bei den Schülerzahlen im Fach Russisch ist nicht allein dem Russischunterricht anzulasten. Aus Angaben des Statistischen Bundesamtes geht hervor, dass in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Schüler in Deutschland um 11,7 % geschrumpft ist. Diese demographische Entwicklung verdeutlicht aber in Anbetracht der geringer gewordenen prozentualen Anteile der Russischlernenden an den Fremdsprachenlernenden in der Schule von M-V auch, dass neben objektiven Gegebenheiten der subjektive Faktor für die Zukunft des Russischunterrichts zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wer als Lehrer z. B. an seiner Schule nicht für den Russischunterricht wirbt, dafür u. a. die Hilfe des RussoMobils in Anspruch nimmt, keinen modernen, lebensnahen und freudvollen Unterricht erteilt, keine Feste und Wettbewerbe für Russischlernende möglichst mit russischen Gästen organisiert, keinen deutsch-russischen Schüleraustausch pflegt oder international anerkannte Zertifikate wie Тесты по русскому языку как иностранному oder The Europeen Language Cerficates in den Unterricht integriert, wer sich daneben nicht sprachlich und methodisch kontinuierlich fortbildet, muss sich fragen, ob er tatsächlich alles Notwendige tut, um zu sichern, dass Russisch als Unterrichtsfach an der eigenen Schule auch zukünftig erteilt werden kann.
3. Vorbehalte gegenüber Russisch als Unterrichtsfach und wie begründet sind sie?
Wenn man Schüler fragt, warum sie sich gegen Russisch entschieden haben, erhält man u. a. folgende Antworten, die nachstehend kommentiert werden sollen:
(1) Mit Englisch, Französisch und Spanisch kann man im Ausland mehr anfangen als mit Russisch.
Das mag vielleicht auf Englisch als die Lingua franca der Globalisierung und Digitalisierung zutreffen, doch selbst auf Englisch nicht immer, denn z. B. in mehreren Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und einigen Staaten Osteuropas kommt man mit Russisch oft weiter als mit Englisch. Dort ist als Lingua franca immer noch Russisch verbreitet. Ein zusätzlicher Anreiz ist es, mit Russisch die berühmte russische Gastfreundschaft ganz persönlich zu erleben.
(2) Wenn schon eine 2. Fremdsprache, dann Französisch, denn Französisch klingt viel schöner.
Wenn Russisch nicht so schön klingt wie Französisch, was Ansichtssache ist, so gilt Russisch neben Italienisch als die Gesangssprache schlechthin. Objektiver ist doch wohl folgender Vergleich: Russisch gehört zu den 10 meistgesprochenen Sprachen, Französisch dagegen nicht. Es ist Muttersprache für 160 Millionen, Französisch für 87 Millionen. Russisch ist außerdem Zweit- oder Fremdsprache für 69 Millionen.
(3) Mit Russisch wird man in Deutschland weniger oft als mit anderen Fremdsprachen konfrontiert.
Das stimmt nicht. Russisch gehört in Deutschland zu den nach Deutsch am meisten gesprochenen Sprachen. In Deutschland leben zwischen vier und fünf Millionen Menschen, die Russisch sprechen. Migranten mit Wurzeln in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und einem russischsprachigen Hintergrund bilden mit Migranten mit türkischen Wurzeln die größten Migrantengruppen in Deutschland. Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung von Russisch als Sprache der Wissenschaft und Technik. Auf zehn verlegte Bücher auf Englisch kommen immerhin acht auf Russisch. Im deutschsprachigen Raum erscheinen über 100 russischsprachige Zeitungen und Zeitschriften.
(4) Russisch ist schwieriger als andere Fremdsprachen.
Russisch als 2. Fremdsprache nach Englisch zu lernen ist bei weitem einfacher, als viele glauben. Die Schwierigkeit der kyrillischen Buchstaben wird oft überschätzt. Anders als Englisch und Französisch schreibt man Russisch weitgehend so, wie man es spricht. Grammatik und Vokabeln muss man wie in jeder Sprache lernen.
(5) Mit den Russlanddeutschen und russischsprachigen Zuwanderern in der Schule kann ich in Russisch sowieso nicht mithalten.
Schüler mit Herkunfts- und Familiensprache Russisch müssen im Russischunterricht kein Nachteil sein. Sie sind beim schriftlichen Sprachgebrauch und beim Erwerb kultureller Erfahrungen in Deutschland oft auf die Hilfe ihrer deutschsprachigen Mitschüler angewiesen und deshalb auch gern bereit, diesen mit ihrem Potenzial an russischsprachigem Können in der Klasse zu helfen. Bei geschickter Einbeziehung in den Russischunterricht, z. B. durch differenzierte Aufgabenstellungen, bei gemeinsamen Projekten, durch Lernen durch Lehren, gegenseitige Patenschaften und Tandemlernen, können sich beide Gruppen gut ergänzen.
(6) An unserer Schule finden keine Austauschprogramme mit Russland statt.
Das lässt sich ändern. Hier sind als ein erster Schritt Kontakte mit Russischlehrern von Schulen mit Austauschprogrammen und Klassenfahrten nach Russland, mit dem Deutsch-Russischen Forum oder mit der Initiative der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch zu empfehlen. Bei der Suche nach einer Partnerschule in Russland hilft auch das Partnersuchforum www.partnerschulnetz.de.
(7) In den anderen Fremdsprachen werden mehr außerschulische Aktivitäten angeboten.
An attraktiven außerschulischen Aktivitäten bieten sich z. B. Begegnungen mit russischen Gästen, Russischolympiaden und Feste der russischen Sprache an, die Beteiligung an Solo 8/9 und 10+ sowie am Gruppenwettbewerb des Bundeswettbewerbs Fremdsprachen oder am Bundescup „Spielend Russisch lernen“.
(8) Die Lehrer in den anderen Fremdsprachen sind beliebter und anerkannter.
Beliebtheit und Akzeptanz bei Schülern kann man nicht erzwingen. Man kann aber bei beliebten und erfolgreichen Kollegen hospitieren, sich von ihrem Habitus etwas abschauen, selbst stets verständnisvoll und hilfsbereit auftreten, gerecht und objektiv in seinem Urteil sein, seinen Unterricht möglichst interessant gestalten, auf die Schüler und deren Interessen eingehen, sie motivieren, den Unterrichtsstoff leicht verständlich und einprägsam erarbeiten lassen, so dass alle Schüler Spaß am Unterricht haben und ihm folgen können.
(9) Die Angebote für Nachhilfe sind geringer als in anderen Fremdsprachen.
Das mag sein, aber sollte nicht bei einem guten Russischunterricht auf Nachhilfe vollständig verzichtet werden können? Wer meint, darauf angewiesen zu sein, sollte sich an einen Russischlehrer der Schule oder einen leistungsstarken Mitschüler wenden. Nachhilfe bietet auch die Schülerhilfe an.
(10) Die Medien informieren zu wenig und oft voreingenommen über Russland.
Gerade ein guter Russischunterricht kann und wird derartigen Defiziten und einseitigen Informationen durch die Einbeziehung vorurteilsfreier und aufklärender Beiträge aus vertrauenswürdigen Quellen über Russland entgegenwirken.
(11) Ein Russischkurs kommt ja sowieso nicht zustande.
Das kann, muss aber nicht sein. Dort, wo der Russischunterricht und der Russischlehrer beliebt sind, es vielfältige außerschulische Aktivitäten gibt, Lehrer und Schulleitung das Fach Russisch für unverzichtbar halten und gemeinsam agieren, lassen sich Wege finden, um selbst dann einen Russischkurs zu bilden, wenn die dafür notwendige Mindestzahl der Teilnehmer nicht erreicht wird.
(12) Russisch gehört nicht zu den Sprachen, mit denen man beeindrucken kann.
Warum eigentlich nicht? Sind die Buchstaben nicht so eine Art Geheimschrift, die einen zum interessanten Exoten macht? Russisch ist allein schon dadurch eine Zusatzqualifikation mit Zugang zu Informationen, die anderen verschlossen bleiben. Bei der Jobsuche kann man eine Kompetenz vorweisen, über die nicht jeder verfügt. Aber auch schon vorher kann man mit Russisch beeindrucken, z. B. bei Projekten, bei der Betreuung russischer Gäste, bei Wettbewerben oder beim Schüleraustausch.
Nicht immer sind es nur Schüler oder Eltern, die Vorurteile gegenüber Russisch als Unterrichtsfach haben. Manchmal sind es auch Schulleitungen, die Russisch als Unterrichtsfach zu verhindern suchen. Wenn man ihren Beweggründen dafür nachspürt, bekommt man u. a. folgende Erklärungen zur Antwort, die hier kurz erörtert werden sollen:
(1) Naturwissenschaften sind wichtiger als Fremdsprachen.
Fremdsprachen sind ebenso wie Naturwissenschaften wichtige Qualifikationen, die bei Stellenbewerbungen ein nicht zu unterschätzendes Auswahlkriterium sein können. Nicht Naturwissenschaftler oder Fremdsprachenkundiger, sondern Schüler, die Naturwissenschaften und Fremdsprachen beherrschen, haben die besten Chancen, ihre Lebens- und Berufsziele zu verwirklichen.
(2) Eine Fremdsprache reicht aus, das ist Englisch.
In den meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion und in Teilen Osteuropas ist Russisch nach wie vor ein wichtiges Verständigungsmittel. Wer gute Geschäfte machen will, spricht die Sprache des Kunden. Und die ist nach wie vor nicht immer und überall nur Englisch. In einem guten Russischunterricht lernen die Schüler außerdem, über kulturelle Grenzen hinweg russischen Menschen aufgeschlossen gegenüberzutreten, kulturell bedingte Konflikte vorauszusehen und damit angemessen umzugehen.
(3) Wir favorisieren Latein als weitere Fremdsprache nach Englisch.
Der kommunikative Wert von Latein ist begrenzt. Wer lernt heute Latein, um z. B. über Grenzen hinweg mit Menschen zu kommunizieren, Land und Leute kennenzulernen? Wohl die wenigsten. Selbst für ein Medizinstudium ist das Latinum nicht mehr Voraussetzung. Ist es da nicht für die Masse der Schüler von größerem praktischen Nutzen, nach Englisch eine weitere moderne Fremdsprache zu lernen, z. B. Russisch?
(4) Wir haben keine Lehrer und keine Stunden für Russisch.
Die Ganztagsschule mit ihrem Stundenpool bietet gute Möglichkeiten für Russischstunden. Fehlende Russischlehrer an der Schule sind ein Leitungsproblem, das sich oft schon in Kooperation mit der Nachbarschule lösen lässt.
4. Welche Perspektiven hat Russisch als Unterrichtsfach an deutschen Schulen?
Ein moderner Fremdsprachenunterricht ohne Russisch ist an deutschen Schulen zurzeit undenkbar und auch in Zukunft nicht zu erwarten. Entsprechend einem Bericht der Kultusministerkonferenz vom 07.03. 2014 zur Situation des Russischunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland ist das Erlernen der russischen Sprache grundsätzlich in allen Bundesländern in unterschiedlichen Schulformen möglich (S. 8). In Grundschulen kann Russisch in acht Bundesländern gelernt werden. In der Sekundarstufe I wird Russisch überwiegend als 2. Fremdsprache ab Jahrgangsstufe 6 oder 7 unterrichtet, in M-V ab Jg. 7. In den meisten Bundesländern ist Russisch als 3. Fremdsprache ab Jahrgangsstufe 8 oder 9 wählbar, in M-V dagegen erst als spät beginnende Fremdsprache ab Jg. 10/11. Während sich die Zahl der Russischlernenden in Deutschland auf der Sekundarstufe I von 62.208 im Schuljahr 2002/03 auf 34.492 im Schuljahr 2011/12 nahezu halbierte, blieb sie auf der Sekundarstufe II mit 22.932 im Schuljahr 2002/03 gegenüber 22.700 im Schuljahr 2011/12 fast konstant (Quelle: Bericht der KMK vom 07.03.2014, S. 10).
Ob die Bedeutung von Russisch als Unterrichtsfach an deutschen Schulen in Zukunft wieder zunimmt oder aber abnimmt, das hängt sowohl von objektiven als auch von subjektiven Aspekten ab. Objektiven Einfluss haben insbesondere die folgenden:
- Russisch ist Amtssprache in Russland und Weißrussland, offizielle Sprache in Kasachstan, Kirgisistan, Abchasien und Südossetien, in Regionen Moldawiens, Tadschikistans und auf der Krim. Es ist eine von sechs Arbeitssprachen in der UNO.
- Russisch ist als Brückensprache Schlüssel und wichtige Grundlage für das Erlernen weiterer Sprachen der slawischen Sprachgruppe.
- Deutschland ist als Kunde wie als Lieferant Russlands wichtigster Handelspartner. Über 2.700 deutsche Firmen sind allein in Moskau tätig. Russland gehört zu den Top Ten der deutschen Handelspartner. Es gilt als Zukunftsmarkt. Wie sehr Russisch als Zusatzqualifikation auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist, verraten nicht zuletzt zahlreiche Anzeigen und Ausschreibungen im Internet.
- In Europa haben wir mit der germanischen, slawischen und romanischen Sprachgruppe drei große Sprachfamilien. Die meisten Schüler sprechen Deutsch und Englisch. Um sich auf dem europäischen Arbeitsmarkt für attraktive Jobs zu empfehlen, kann eine individuelle Sprachenbiografie mit einer slawischen und romanischen Sprache, z. B. mit Russisch und mit Französisch oder Spanisch, nur hilfreich sein.
- Der Russischunterricht eröffnet den Schülern direkten Zugang zum Kulturraum und zur Mentalität der Osteuropäer (Kunst, Literatur, Musik, Architektur, Mode) in ihren Unterschieden und Wechselbeziehungen zur westlichen Kultur und Mentalität. Vorhandene Vorurteile und Klischees werden abgebaut.
Ob an einer bestimmten Schule in Zukunft Russisch unterrichtet, ausgesetzt oder nicht mehr erteilt wird, wird nach meiner Einschätzung – im Osten wie im Westen – primär durch die Schulleitungen und die Lehrkräfte entschieden. Dort, wo sich Russischlehrer aufgeben und damit abfinden, dass ein (neuer) Russischkurs ja doch nicht zustande kommt, steht es schlecht um die Perspektiven des Russischunterrichts. Wenn dann noch die Schulleitung die Weiterführung bzw. eine Neuaufnahme von Russisch zu boykottieren sucht, wird es das Unterrichtsfach schwer haben, seinen Platz im Fächerkanon zu behaupten. Aber dort, wo Schulleitung und Lehrer alles tun, um möglichst viele Schüler und deren Eltern für Russisch als Unterrichtsfach zu gewinnen, und durch ihr Engagement und ihre ideenreiche Arbeit die erforderlichen schulischen Rahmenbedingungen für einen attraktiven und erfolgreichen Russischunterricht schaffen, muss niemand um den Fortbestand von Russisch als Unterrichtsfach fürchten. Die Grundpfeiler für einen erfolgreichen Russischunterricht mit sicherer Perspektive sind die Begeisterungsfähigkeit der Lehrer, ihre sprachliche, interkulturelle, methodische und mediale Kompetenz sowie ein von gegenseitiger Achtung und von Vertrauen, Einfühlungsvermögen und positiver Zuwendung geprägtes Lehrer-Schüler-Verhältnis. Nicht zu unterschätzen ist aber auch der Rückhalt durch eine interkulturell und sprachenpolitisch aufgeschlossene Schulleitung, die sich der Bedeutung der russischen Sprache im Rahmen des schulischen Fremdsprachenangebots bewusst ist.
5. Was kann getan werden, um Schüler verstärkt für Russisch zu gewinnen?
Aus Platzgründen beschränke ich mich im Folgenden auf eine kleine Auswahl von Initiativen und Aktivitäten, die sich in der Schulpraxis bewährt haben:
- Werbung für den Russischunterricht auf Elternabenden, in Schnupperstunden, an Projekttagen, Tagen der Offenen Tür, in Informationsmaterialien, an Wandzeitungen, auf der Homepage der Schule
- Einladung von Absolventen der Schule zu öffentlichen Diskussionen über ihre persönlichen Erfahrungen im praktischen Umgang mit Russisch im Alltagsleben
- Befähigung der Lernenden zum selbstständigen situationsadäquaten kommunikativen Handeln in der russischen Sprache
- Öffnung des Unterrichts für Lernen an Stationen, Lernen durch Lehren, Unterrichtsgänge, Projektarbeit, kooperative Lernformen, aktuelle Medien und russische Gäste
- Ausrichtung und öffentliche Auswertung von Wettbewerben (Quiz, Schulolympiade)
- Inszenierung und Aufführung von Programmen in russischer Sprache Schüler- und Jugendaustausch sowie Brief- und E-Mail-Kontakte im Rahmen deutsch-russischer Schul- und Städtepartnerschaften
Weitere Möglichkeiten sind bereits oben genannt worden.
Alle diese und noch andere Aktivitäten zeigen, dass engagierte Russischlehrer über eine Reihe von Mitteln und Wegen verfügen, bei den Schülern nachhaltiges Interesse für das Fach Russisch zu wecken. Sie zeigen aber auch, dass der gute Ruf des Russischunterrichts nicht mehr ist als eine wichtige Bedingung, um den Russischunterricht zu sichern. Daneben müssen viel Zeit und Arbeit in Werbeaktionen der verschiedensten Art sowie in außerunterrichtliche und außerschulische Aktivitäten investiert werden. Das ist für jeden Russischlehrer eine große Herausforderung, die aber von vielen Kolleginnen und Kollegen mit bewundernswertem Engagement und Einfühlungsvermögen gemeistert wird.