Ein Praxisvorschlag
Die Reflexion über Geschlechterrollen und andere soziale Rollen ist ein wichtiger Gegenstand kulturellen Lernens, der auch im Fremdsprachenunterricht Aufmerksamkeit verdient. Wichtige Ziele sind Bewusstmachen der Rollenstereotype und der mit ihnen verbundenen Perspektiven, aber auch der Gestaltbarkeit und Vielfalt sozialer Rollen und, verbunden mit der Fähigkeit zur fremdsprachlichen Kommunikation über das Thema. Das folgende Beispiel eines Gedichts einer jüdischen südafrikanischen Autorin ist sprachlich durch die Parallelstrukturen und die alltägliche Lexik gut zu bewältigen und bietet vielfältige Möglichkeiten zur Perspektivenidentifizierung, -übernahme und -koordination.
Material: Gedicht “Enough” von Azila Talit Reisenberger (aus: Azila Talit Reisenberger: Life in Translation. Athlone: Modjaji Books 2009. S. 30).
Enough
Enough I said.
Enough rearing,
enough raising,
enough kissing,
enough soothing,
enough serving.
Enough I said.
Enough cooking,
enough washing,
enough bill paying,
enough home-making,
enough message taking,
and doctor’s room waiting.
Enough I said.
I must conceive again.
Conceive myself.
Write.
Das Gedicht bietet sich an zur Behandlung im Themenfeld Familie/Geschlechterrollen, kann aber weit darüber hinaus reichen. Je nach Jahrgangsstufe müssen die lexikalischen Einheiten zuvor in anderen Kontexten wiederholt bzw. eingeführt werden.
Mögliche Vorgehensweisen
Rezeption des Gedichts
- Erstbegegnung mit dem Gedicht ohne Nennung des Namens der Autorin, damit die Frage nach dem lyrischen Ich offen bleibt. Kurze Äußerungen der SchülerInnen zum Inhalt des Gedichts
- Zweiter Vortrag des Gedichts, SchülerInnen haben jetzt den Text vor sich.
- Ggf. Semantisierung noch nicht bekannter Lexik
Interpretation: Identifizierung von möglichen Perspektiven im Gedicht
- Hier eignen sich Fragen wie: Who speaks? (“I”) – What do you learn about the I’s life? What kind of person may this “lyrical I” be? (wife, mother, housewife, writer) – Could this “I” also be a husband, father, writer? Why/not? Or another person? What does the last stanza mean (“conceive”, “write”)?
- Zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Gedicht eignet sich auch die Methode des “Readers’ Theater”, bei der kleine Gruppen ein Gedicht lesen, diskutieren und pantomimisch darstellen.
Einnahme fremder Perspektiven / Perspektivenwechsel
- Das Gedicht lädt aufgrund der einfachen und sehr repetitiven sprachlichen Struktur ein zum Verfassen ähnlicher Gedichte aus verschiedenen Perspektiven/Positionen heraus. Von welchen alltäglichen Tätigkeiten haben Menschen genug?
- Die Perspektive der Jugendlichen selbst im Vergleich zur Rolle im Gedicht könnte als Ausgangspunkt genommen werden: Azila Reisenberger describes the activities that she has done so often that she does not want to do them anymore, but rather she wants to have time to be a writer. Which activities have you done so often that you feel it is enough? And what would be your project, what would you want to do instead? Das könnte gemeinsam angedacht (Lexik!), aber individuell aufgeschrieben werden.
- Vorrangig sollten jedoch andere, fremde Rollen durchgespielt werden. Man könnte verschiedene Perspektiven vorschlagen und in Gruppenarbeit die “enoughs” erarbeiten lassen. Hier bieten sich einerseits verschiedene familiäre Perspektiven an: The perspective of Reisenberger’s husband and father of their children. Would there be any different “enoughs” if two women/two men raised the children? What would grandparents have enough of, and what would they rather do?
Andererseits können die “enoughs” auch auf ganz fremde soziale und kulturelle Perspektiven angewendet werden, auf z. B. neue Einwanderer oder Flüchtlinge – in Deutschland, in den USA oder Großbritannien – und ihr Erleben von Bürokratie und Ablehnung (enough waiting, enough misunderstanding, enough asking, enough hearing No, enough loneliness …), auf politische AktivistInnen und vieles mehr. Hier sind der Phantasie kaum Grenzen gesetzt. Wichtig ist bei der Präsentation der fremden Perspektiven, dass über das Erleben der Welt durch andere Menschen nachgedacht wird und dessen Vielfalt zum Tragen kommt.
Prof. Dr. Gabriele Linke (Universität Rostock)