Warum nicht mal ein Gedicht?
Aus dem Blickfeld mancher Lehrer verschwunden sind Gedichte, auch wenn sie zu den verbindlichen Texten zählen. Sie haben immer schon ein Nischendasein im Fremdsprachenunterricht geführt und wurden nur selten im Unterricht angeboten. Es mag sein, dass Schüler, auch Kollegen, eine gewisse Scheu davor hatten, sich mit Gedichten und ihrer verschlüsselten Sprache auseinanderzusetzen. Auch die übliche Interpretation nach den Regeln der Kunst (Form, Versmaß, Bildsprache etc.: Was will uns der Autor damit sagen?) mag abgeschreckt haben.
Hier nun ein Vorschlag, wie man dennoch Schüler dafür gewinnen kann, Gedichte zu lesen und – vielleicht – für sich daraus Gewinn zu ziehen.
(1) Grundsätzlich gilt: es wird keine Interpretation im Sinne sprach- und literaturwissenschaftlicher Kategorien angestrebt, Meinungsäußerungen werden nicht korrigiert.
(2) Der Lehrer bringt einen Gedichtband in den Unterricht mit. Er erläutert den Charakter der Sammlung: nicht thematisch oder historisch, sondern alphabetisch; dadurch stehen ganz unterschiedliche Dichter nebeneinander, ebenso ganz unterschiedliche Gedichte, alle in gebundener Sprache, ernste, witzige, elegische, philosophische, anklagende zu verschiedenen Themen.
(3) Der Lehrer liest ein oder zwei Gedichte vor und begründet seine subjektive Wahl: Mir gefällt das Gedicht, weil …; ich fand das Thema interessant …; ich finde die Sprache schön …; die Behandlung des Themas ist witzig, habe ich so noch nirgends gelesen …In keinem Fall soll es eine Interpretation nach den Regeln der Profession sein. Vielmehr soll deutlich werden, dass Gedichte schön sind, Freude bereiten können und ausdrücken, was einem wichtig ist.
(4) Der Gedichtband wird den Schülern angeboten: Wer möchte den Band mitnehmen und darin stöbern? Zeit acht Tage; einzige Aufgabe: irgendein Gedicht auswählen, das gefallen hat. Nach der Frist: Frage nach dem Gedicht. Dies vorlesen lassen, damit alle teilhaben können. Danach Aufforderung: Warum wurde das Gedicht ausgewählt? Auch jetzt wieder keine Interpretation. Gefragt ist die subjektive Reaktion auf das Gedicht. Auch eine negative Antwort sollte akzeptiert und nicht kritisiert werden: Ich habe kein Gedicht gefunden, das mir gefallen hätte. Die Sprache ist unverständlich, zu schwer, ich mag die komplizierte Sprache nicht. Gedichte sind Unsinn. Warum kann man das nicht normal sagen? Fast immer gibt es eine Reaktion aus der Lerngruppe, zustimmend oder ablehnend.
(5) Dann Weitergabe des Bandes an einen anderen Schüler, eine andere Schülerin.
Diese Vorgehensweise ist in mehreren Oberstufenklassen praktiziert worden. Es ist nie vorgekommen, dass jemand den Band nicht durchblättern wollte; es ist vorgekommen, dass kein Gedicht gewählt wurde. Oft wurden im Anschluss an die Auswahl eines Gedichts unter den Schülern Gespräche geführt. Es haben aber auch Schüler ihre gewählten Gedichte auswendig vorgetragen, so geschehen in einer 12. Klasse.
Warum das alles? Der Fremdsprachenlehrer ist verpflichtet, die Bandbreite dessen, was eine Kultur hervorgebracht hat, wenigstens ansatzweise seinen Schülern vorzustellen und anzubieten, immer in der Hoffnung, dadurch Interesse zu wecken. Die Schule bietet dazu die letzte Gelegenheit vor dem Berufsleben mit seinen Anforderungen des Funktionierens, wo Gelegenheiten zu unbefangener Begegnung mit einer anderen Kultur selten möglich sind. Für viele ergibt sich dazu später keine Gelegenheit mehr, bestenfalls durch Zufall.
Gekürzter Nachdruck aus FMF Nachrichten für Niedersachsen, Nr. 5/Februar 2010, S. 40 f